Aurora Sea Leseprobe Part 2


Na haben wir Euch neugierig gemacht mit dem kleinen Einblick? 
Dann habe ich eine Überraschung, heute gibts nämlich das zweite Kapitel zu lesen :)

Wir wollen Euch ja nicht auf dem trockenen liegen lassen *kicher*
Und für alle Interessierten, gibts nächste Woche dann ein kleines Gewinnspiel *.*



Nachricht

Zwei Wochen später

Ich setzte mich auf mein Bett und blätterte in einem Fotoalbum, das Mom einst zusammengestellt hatte.
Inmitten des Albums entdeckte ich ein großes Familienfoto, auf dem meine Eltern so natürlich wirkten, wie sie auch in Wirklichkeit immer gewesen waren. Ich vermisste so viel, tausend Kleinigkeiten. Paps Lachen, seinen Humor, mit dem er meine Mutter oft in den Wahnsinn getrieben hatte, und seine spontanen Ideen.
Mir fehlte Moms warme Stimme, die kleinen Ausflüge, die wir oft unternahmen, und wie wir über Gott und die Welt diskutierten. Wir waren immer füreinander da gewesen, wie eine Bilderbuchfamilie. Zu schön, um wahr zu sein, hatte ich manchmal gedacht.
Langsam blätterte ich weiter. Wenn ich meine Eltern mit einem Wort beschreiben müsste, dann würde ich das Wort Wiege wählen. Denn genau das waren sie immer für mich gewesen. Eine Wiege, in die ich mich betten konnte, und die mich aus allem herausschaukelte. Genauso aber wollte ich auch für sie da sein. Nun konnte ich nichts tun und es machte mich wahnsinnig.
»Willst du mit Georg und mir Krabben essen, Emma?«, rief Tante Mathilda nach oben.
»Danke, aber ich hab keinen Hunger«, erwiderte ich und ließ mich rücklings aufs Bett fallen. Noch immer waren die Suchaktionen nach der Boeing ergebnislos geblieben.
Jeden Tag hatte ich positiven Neuigkeiten entgegengefiebert und mit den Angehörigen gefühlt. Ich schüttelte den Kopf und dachte wieder einmal an die letzten Stunden, die ich mit meinen Eltern verbracht hatte. Sie hatten nicht fliegen wollen, als mich am Vortag der Abreise eine Sommergrippe überraschte. Ich war es, die sie davon abbrachte, den Flug sofort zu stornieren, wusste ich doch, wie lange sie sich schon auf diese Reise nach Atlanta gefreut hatten.
Zudem hatte sich Tante Tilli bereiterklärt, auf mich aufzupassen, und sich sogleich auf den Weg gemacht. Mom hatte mir abends Lieder vorgesungen und Paps mir doch noch seine neueste Idee für sein nächstes Buch verraten. Danach hatten wir gemeinsam »Mensch ärgere Dich nicht« gespielt und waren zusammen eingeschlafen.
Ich wünschte, sie hätten den Wecker am nächsten Morgen nicht gehört oder nicht auf mich.
Wenige Stunden nach ihrem Abflug war die Passagiermaschine vom Radar der Luftüberwachung verschwunden. Kein Hilferuf des Piloten, nichts. Nur Stille. Alles, was blieb, waren Fragen, die niemand beantworten konnte und Vermutungen, die sicher nicht nur bei mir Albträume auslösten. Die Ungewissheit zeichnete immer schrecklichere Bilder. Nach dem neuesten Ereignis lief ich Gefahr, mich wieder zu sehr in ein Tief hineinzukatapultieren. Ich ahnte, dass mein Jahresurlaub so enden würde.
Ablenkung musste her. Also beschloss ich, nach Tinnum zu gehen, in mein Lieblingscafé, um dort eine Tasse mit heißer, weißer Schokolade und extra viel Sahne zu trinken.
»Wann kommst du zurück?«, wollte Tanta Mathilda wissen und lächelte mir vom Küchentisch aus zu, an dem sie mit Georg bei einem Glas Wein, frischen Krabben und Weißbrot saß.
»Weiß noch nicht. Ich geh mal ins Roxy. Bestimmt sind Mel und Björn auch dort.«
»Na, dann viel Spaß, Deern!«, wünschte Georg, bevor ich das Haus verließ.
»Und Jacke nicht vergessen«, bemerkte Tante Mathilda. Sie sah in mir immer noch das kleine Mädchen, aber ich nahm es ihr nicht übel, meistens jedenfalls.
Artig schnappte ich mir meinen blauen Parka, der im Flur an der Garderobe hing, und machte mich auf den Weg. Der Wind war rau und schnitt mir ins Gesicht, als ich durch die Dünen lief. Von Tante Tillis Anwesen aus war es ungefähr ein halber Kilometer, bis man auf das erste Haus der Ortschaft traf.
Die Kieselsteine des schmalen, schlangenförmigen Weges, der nach Tinnum führte, knirschten unter meinen Schuhen. Ich atmete tief ein und langsam wieder aus und schickte Melanie eine SMS.
Mel und Björn waren seit meiner Ankunft hier auf Sylt an meiner Seite und die besten Freunde, die ich mir vorstellen konnte. Schon bevor ich hierhergezogen war, kannte ich die beiden von Kurzurlauben – wenn auch nur flüchtig.
Bin auf dem Weg ins Roxy. Sehen wir uns da?
Wie gedacht, kam die Antwort prompt. Björn ist krank, aber ich komme - klar. Bis gleich. Freu mich!
Ich schickte ihr einen Smiley. Als ich Tinnum erreichte, piepste erneut mein Handy. Hoffentlich war es nicht Mel, die doch noch absagen wollte, weil ihr vielleicht etwas dazwischengekommen war.
Ich zog das Handy aus der Tasche und warf einen Blick aufs Display. Die SMS kam von einer unbekannten Nummer. Seltsam. Dennoch öffnete ich sie und las.
Hier ist Jamie. Ich bin Passagier der Maschine gewesen, die vor ein paar Tagen über dem Atlantik abgestürzt ist. Brauche deine Hilfe. Bitte! Dies ist KEIN SCHERZ. Kann jetzt nicht mehr schreiben, sie kommen.
Im ersten Moment war ich so entsetzt, dass mir das Handy beinahe aus den Händen gefallen wäre. Erst nach ein paar Sekunden setzte mein rationaler Verstand wieder ein. Das konnte doch nur ein schlechter, absolut niveauloser Scherz sein. Von wegen Hilfe! Ich steckte das Handy wieder ein und marschierte mit einer Portion Wut im Bauch weiter. Wie konnte man nur so dreist sein?
Zeitgleich mit mir kam Mel am Roxys an und begrüßte mich, wie üblich, mit Wangenküsschen. Sie sah klasse aus in ihren marineblauen Boots und der Jeans-Latzhose, unter der sie eine lässige, weiße Bluse trug. Der Wind wirbelte ihr rotes, kurzes Haar durcheinander und trieb ihr Tränen in die Augen.
»Schnell rein«, sagte sie, nahm mich an der Hand und zog mich in das Café, das im 50er-Jahre-Stil eingerichtet war. Sogar die Kellnerinnen sahen aus, als wären sie gerade aus einer Zeitkapsel gestiegen.
Wir setzten uns auf eine der Bänke, die mit ziegelrotem Kunstleder bezogen waren, und bestellten zwei der Kalorienbomben. Mel hatte sich mir gegenübergesetzt und beugte sich ein wenig vor.
»Stillhalten, du hast da eine Wimper«, sagte sie und griff vorsichtig danach. Sie hatte sich unter meinem rechten Auge verfangen. Mel hielt mir den Finger, auf dessen Kuppe sie die Wimper balancierte, vor die Nase und bemerkte: »Puste sie weg und wünsch dir dabei was!«
Ich lachte ein wenig, woraufhin sie erwiderte: »He, ich mein es ernst. Das letzte Mal, als ich es gemacht habe, hat es funktioniert.«
»Sei mir nicht böse. Aber das kann ich nicht glauben. Wäre ja zu schön. Was hast du dir denn gewünscht?«
Auf meine Frage hin, errötete Mel ein wenig, schnappte sich mit der freien Hand einen Löffel und begann in ihrer Schokolade zu rühren. Ohne mich anzusehen, antwortete sie: »Einen erfolgreichen Flirt mit Tim Jacobs.«
»Wusste ich doch, dass du auf den Fischerburschen stehst. Erzähl mal genauer.«
»Stell dir vor, wir sind uns in Tinnum über den Weg gelaufen. Ja, ist noch nichts Sensationelles. Aber zum ersten Mal hat er mich bemerkt, ist ein paar Meter vor mir stehen geblieben und schielte immer wieder rüber. Am Ende hat er mir sogar zugezwinkert.«
Ich spitzte kurz die Lippen. »Wow. Schicksalshaft!«
»Du machst dich über mich lustig.« Sie wollte gerade ihren Finger wegziehen, als ich es mir anders überlegte. Vielleicht war am Ende wirklich was dran. Schaden konnte es jedenfalls nicht.
»Warte! Ich mache es.«
Mel lächelte über ihren kleinen Triumph. Ich schloss die Augen und wünschte mir, dass ich endlich eine Nachricht über Moms und Dads Verbleib erhielt. Dann blies ich die Wimper von Mels Finger.
»Ich weiß, dass man seinen Wunsch nicht verraten darf. Aber gibst du mir wenigstens einen kleinen Hinweis?«, fragte Mel. In ihren braunen Augen lag ein neugieriges Leuchten.
»Meine Eltern«, erwiderte ich leise.
Augenblicklich verschwand das Lächeln aus Mels Gesicht. »Verstehe«, sagte sie nur und sah mich mitleidig an.
Ich wich ihrem Blick aus und versuchte die Tränen zu unterdrücken, da piepste mein Handy erneut. Die Nachricht von vorhin wühlte immer noch in mir. Mit einem lauten Seufzen griff ich in meine Tasche und holte das Handy hervor.
»Wenn das wieder dieser seltsame Typ ist, flipp ich aus.«
»Welcher Typ?«, wollte Melanie wissen und reckte sich, um einen Blick auf das Display zu werfen.
Er war es nicht. Tante Mathilda bat mich, ihr frischen Salat mitzubringen. Ich atmete auf und zeigte Mel die Message, die ich von dem angeblichen Passagier bekommen hatte. Sie nahm sie kopfschüttelnd zur Kenntnis.
»Also, das ist wirklich abgedreht. Würde ich auch nicht für voll nehmen«, sagte sie.
»Ich frag mich, wer wohl dahintersteckt. Muss doch einer sein, der von dem Schicksal meiner Eltern weiß und sich genau deshalb diesen geschmacklosen Joke überlegt hat oder wie man es sonst nennen soll. Frechheit!«
Mel nickte langsam und beobachtete mich, wie ich auf »Antworten« klickte.
»Weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, Emma. Falls du nun zurückschreiben willst, dann besser keine Beleidigungen. Wer weiß, was für ein krankes Hirn dahintersteckt.«
Ich musste es tun, um meiner Wut ein wenig Luft zu machen. Also tippte ich folgende Message: Lass die dummen Scherze. Finde ich nicht witzig. Erste und letzte Antwort! Schäm dich!
Nachdem ich den letzten Buchstaben eingegeben hatte, drückte ich, ohne noch einmal zu überlegen, auf Senden. Es dauerte nur ein paar Sekunden, da erhielt ich von selbigem Absender eine weitere Nachricht.
»Der spinnt doch!«, schimpfte ich und drückte auf Annehmen.
Mel rutschte auf meine Seite. Gemeinsam lasen wir. Bitte melde dich! Brauch dich. Ich hab die Nummer von deiner Mutter – Helena. Dein Vater nennt sie oft Leni.«
Verdutzt sahen Mel und ich uns an.
»Ist doch sehr seltsam. Glaube, der spielt wirklich nur ein dummes Spiel. Aber er scheint dich und deine Familie gut zu kennen und es für seine Zwecke zu nutzen. Schrecklich!«, bemerkte Mel.
»Du denkst also, es ist einer von hier?«
»Naja. Ich denke da an einen ganz Bestimmten. Ich meine Piet. Jeder weiß, dass er ein Auge auf dich geworfen hat. Vielleicht ist er sauer, weil du ihn links liegen lässt. Ich meine, denk mal an Dani. Als die ihm eine Abfuhr gegeben hat, stalkte er sie beinahe den ganzen Sommer hindurch, bis ihr Vater ihm eine Lektion erteilte.«
Möglicherweise hatte sie recht. Piet war ungefähr in meinem Alter und hielt sich für unwiderstehlich. Daraus machte er keinen Hehl. Zwar mochte er gut aussehen, doch seine Oberflächlichkeit und das übertriebene Getue machten ihn geradezu hässlich.
Er war der Sohn eines erfolgreichen Immobilienmaklers aus Tinnum. Seine Avancen waren mir natürlich nicht entgangen. Aber Piet war der Letzte, den ich mir als Partner vorstellen konnte.
Mein Handy meldete, dass meine Nachricht an Jamie, oder wie immer er in Wirklichkeit hieß, fehlgeschlagen war. Also sendete ich sie erneut, allerdings wieder ohne Erfolg.
»Am besten, du ignorierst weitere Nachrichten einfach«, sagte Melanie.
Ich nickte und schaltete das Handy kurzerhand aus.
»Hast du von dem Flugzeug gehört, das über dem Atlantik verschwunden ist?«, fragte ich.
Mel schlug die Augen nieder. »Ich wollte es nur nicht ansprechen, um nicht … na, du weißt schon, alte Wunden wieder aufzureißen.«
»Weißt du, ich kann das alles nicht verstehen. Wie können gleich zwei Maschinen einfach so im Nichts verschwinden? So, als hätte es sie nie gegeben?«
»Ich wünschte, ich könnte dir das beantworten. Es tut mir so leid, Emma.«
Ich atmete tief durch und trank von meiner Schokolade. Sie schmeckte gut, aber den Kummer konnte sie dieses Mal nicht mal ansatzweise vertreiben. Dennoch bereute ich nicht, hierhergekommen zu sein. Ich war froh, dass ich Mel hatte.
Nach unserer Schokolade schleppte sie mich durch die kleinen Geschäfte der Stadt, die manchmal richtig ausgefallene Schätze und Geheimnisse bargen. Es dauerte nicht lange und ich wurde fündig. Auf einem verstaubten Regal eines Antiquitätengeschäfts entdeckten wir ein altes Buch mit ein wenig verwischten Zeichnungen eines Unbekannten. Die Seiten waren wellig, als wäre das Buch direkt aus dem Wasser gefischt worden. Frau Ischgl, der der Laden gehörte, beobachtete uns neugierig aus ein paar Meter Entfernung.
Der Maler musste aus Sylt gewesen sein oder zumindest ein Liebhaber der Insel, denn seine Zeichnungen galten allesamt dem Meer und seiner unmittelbaren Umgebung.
»Mein Großvater hat das Buch zufällig vor ein paar Jahren gefunden. Es lag in Strandnähe, in einer kleinen Felshöhle versteckt«, erzählte uns Frau Ischgl und kam näher, während ich es durchblätterte.
Obwohl die Welt, die der Maler auf dem Papier geschaffen hatte, nur schwarz-weiß war, enthielt sie eine lebendige Intensität, die mich faszinierte. Ich musste es haben.
»Mein Großvater hat es mir vererbt. Also wenn ihr es wollt, mach ich euch einen guten Preis. Verstaubt hier nur.«
Wie konnte sie so einen Schatz einfach so hergeben, dachte ich, nahm ihr Angebot aber ohne länger zu zögern an.
»Ich dachte, du hasst das Meer«, bemerkte Mel im Hinausgehen.
»Hassen ist nicht das richtige Wort. Ich finde es eher … unheimlich. Aber hier auf den Zeichnungen, da sieht es so friedlich aus. Findest du nicht?«
Ich hielt ihr das Buch hin, woraufhin sie mit den Schultern zuckte. Mit Kunst hatte Mel nicht wirklich viel am Hut. Schade eigentlich!

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