(Wer sich beim Lesen schwer tut, kann mir gerne eine Mail schreiben, dann sende ich Euch die Leseprobe als Word zu ...)
Kapitel 1
Der Mann, der mir gegenüber saß, war schon lange
tot, genau wie seine liebreizende Frau neben ihm. Ihr aschblondes Haar war zu
einem strengen Dutt geknotet, was sehr im Kontrast zu ihren filigranen
Gesichtszügen stand. Ich fand sie zwar nicht atemberaubend schön, aber der
blasse Teint und die großen, unschuldig wirkenden Augen machten sie sicherlich
bei vielen Männern beliebt. Unschuldig war sie jedoch keinesfalls, auch wenn
man sie und ihren Mann zu den Guten zählen konnte.
Ich kannte die Meiers schon ein paar Jahre, hatte
sie aber erst einmal zu Gesicht bekommen. Damals saßen sie in der gleichen
adretten Aufmachung vor mir, nur hatte ich sie nicht selbst bedient, sondern
neben meinem Vater gesessen und zugehört. Meinen Unterlagen zufolge, die ich
schnell überflog, war es genau sechs Jahre her. Damals waren sie aus Österreich
nach Berlin gezogen, um sich hier niederzulassen.
»Wir haben uns lange nicht gesehen, was führt Sie
zu uns?« Ich schlug den Ordner auf meinem Schreibtisch zu und verschränkte
geschäftsmäßig die Hände. Eigentlich nahm ich nach drei Uhr keine Kunden mehr
an, aber die Meiers hatten vor einer halben Stunde angerufen und mich
eindringlichst gebeten, sie anzuhören – und zwar persönlich.
»Sie wissen, dass wir stets vollauf zufrieden mit
Ihren Immobilien sind«, begann Herr Meier und schaute mich eindringlich an. Er
hatte kurz geschorene Haare, höchstens einen Zentimeter hoch, himmelblaue Augen
und einen Vollbart. »Aber seit einiger Zeit werden wir von Außenseitern
belästigt und immer öfter um Obdach gebeten. Wenn wir die Anfragen weiterhin
ablehnen, wird es zu Handgreiflichkeiten kommen.«
Mit Außenseitern meinte er herrenlose Vampire, die
am Rand der Städte lebten, weil sie entweder nicht genug Geld hatten, sich
unsere speziellen Immobilien zu leisten, oder ungehorsam waren. Soweit ich
wusste, waren die Meiers noch junge Vampire und höchstens fünfundzwanzig Jahre
tot. Das hieß, dass sie zu den schwächsten ihrer Art gehörten und – ob man es
nun glaubt oder nicht – die Gewalt mehr als alles andere verabscheuten.
»Sie könnten es dem örtlichen Ranger melden«,
schlug ich vor, doch Herr Meier schüttelte sofort den Kopf.
»Sie wissen selbst, dass Gregor nicht mehr bei Sinnen
ist. Er vernachlässigt seinen Bezirk schon seit geraumer Zeit.«
Das stimmte. Gregor war der Ranger vom Bezirk 6,
Steglitz-Zehlendorf, und für das Wohl der dort lebenden Paranormalen und
Menschen verantwortlich. Seit aber seine Frau vor ein paar Monaten gestorben
war, drehte er völlig durch. Er war einer von zwölf paranormalen Rangern, denen
jeweils ein Berliner Bezirk zugeordnet war. Nach der Wiedervereinigung im Jahre
1990 waren es noch dreiundzwanzig gewesen, doch 2001 entstanden dann im Rahmen
der Verwaltungsreform zwölf neue Bezirke. Ich selbst war damals erst zwölf
gewesen und hatte nicht viel mitbekommen, aber mein Vater hatte mir von den
unschönen Konkurrenzkämpfen erzählt, als es hieß, die Stellen, würden um ganze
elf Plätze gekürzt. Soll ein ganz schönes Blutbad gewesen sein!
»Sie wissen, dass es Sie einiges mehr kosten wird
als Ihre jetzige Immobile?«, erklärte ich. »Zurzeit kann ich nur
Charlottenburg, Grunewald und Mitte anbieten.« Ich wusste, dass Mitte für sie
nicht infrage kam, weil sich dort die geschäftigen Untoten mit ihren
zahlreichen Clubs, Bars und was weiß ich für Einrichtungen tummelten. Ich
fragte mich, warum sie sich überhaupt hatten verwandeln lassen, wenn sie ihren
Artgenossen so abgeneigt waren.
»Ich bin mir sicher, dass wir zu einer Einigung
kommen«, meldete sich erstmals Frau Meier zu Wort und drückte die bleiche Hand
ihres Gatten.
Normalerweise waren Vampire überhaupt nicht bleich
und optisch kaum von den Menschen zu unterscheiden. Durch die Aufnahme von
warmem Blut bekommen sie einen natürlichen Teint, der sich deutlich von ihren
Leinwandkollegen unterscheidet. Meine Kunden hatten also entweder mit Make-up
nachgeholfen, was öfter vorkam, als man dachte, oder schon länger nichts mehr
getrunken. »Also gut, ich werde sehen, was ich machen kann. Wie lange habe ich
Zeit?«
»Eine Woche. Meine Frau und ich werden so lange im
Hotel absteigen.«
Fast entglitten mir meine freundlichen
Gesichtszüge. Eine Woche war verdammt wenig, wenn man einen Haushalt, eine
Teilzeitanstellung in einer Immobilienfirma und nebenbei noch einen
Hochschulabschluss als technische Gebäudemanagerin zu bewältigen hatte. In
nicht einmal mehr als einem Monat würde die mündliche Prüfung sein, und die
Masterarbeit musste ich nächste Woche abgeben. Ich sagte jedoch nichts
dergleichen, sondern nickte höflich und hoffte, dass mein Vater bald zurück
war. Seit siebenundzwanzig Jahren leitete er Dark Immovable Property, kurz D.I.P genannt, eine Immobilienfirma,
die sich auf die Bedürfnisse von Untoten spezialisiert hatte. Panzer- und
Sonnenschutzglas gehörten da zur Grundausstattung. Er war vor zwei Wochen nach
New York gereist, um sich mit einigen Klienten zu treffen, und wollte nach drei
Wochen zurück sein. Da gab es zwar noch Louis, unseren französischen
Stellvertreter, doch der war weniger für die Kunden als für den Papierkram
zuständig, und so lag es an mir, unsere Kundschaft zu bedienen.
Die Meiers bedankten sich und gaben mir ihre
Visitenkarte mit einer neuen Nummer. Ich heftete sie in den Ordner und
begleitete sie zur Tür. Es war riskant für einen Vampir, so knapp vor
Sonnenaufgang noch herumzuspazieren. Sie gehen zwar nicht sofort in Flammen
auf, wie uns Hollywood immer glauben machen will, aber sie verlieren ihre
übernatürlichen Kräfte. Schlimmer noch, im direkten Sonnenlicht sind sie meist
schwächer als ein gewöhnlicher Mensch und träger als ein Faultier, und
irgendwann sterben sie natürlich, aber bis dahin ist es dann ein qualvoller
Weg.
Am Fahrstuhl
verabschiedeten sie sich dann endgültig und fuhren dreizehn Stockwerke tiefer
in die Tiefgarage. Erschöpft schaute ich auf die Uhr. Es war vier Uhr nachts,
und ich war hundemüde. Eigentlich machte ich nie Spätschichten – oder in diesem
Fall Frühschichten –, aber Gina war im Urlaub und unsere Aushilfe krank. Und da
ich weder Zeit noch Lust hatte, eine Vertretung zu suchen, musste ich wohl oder
übel in den sauren Apfel beißen. Ich spielte bereits mit dem Gedanken, die
Nacht einfach hier zu verbringen. Wir hatten einen Schlafraum, der speziell für
solche Schichten gedacht war, aber ich mochte es nicht besonders in der Firma
zu schlafen, und schon gar nicht, wenn ich alleine war. Ja, ich bin
dreiundzwanzig Jahre alt und fürchte mich immer noch im Dunkeln. Na und?
Zwanzig Minuten später schnappte ich mir meine
Tasche, stopfte Schlüssel und Zigaretten hinein, schaltete den Computer und das
Licht aus und ging zum Fahrstuhl. Ihm haftete ein leicht süßlicher Geruch an,
den ich gelernt hatte, mit Vampiren in Verbindung zu bringen. Während ich nach
unten fuhr, fragte ich mich, warum das eigentlich so war. Sollten Vampire nicht
eher nach Tod und Verwesung riechen?
Noch bevor sich die Fahrstuhltür öffnete, erstarrte
ich, denn in meine Nase drang der Geruch von Blut. Ich hockte mich auf den
Boden, streifte die Tasche ab und zog meine Waffe. Es war eine SIG P226 X Five,
die einen extrem schnellen Magazinwechsel hatte – eine Eigenschaft, die man in
der Nähe von Vampiren zu schätzen lernte. Mein Vater hatte sie mir zum
achtzehnten Geburtstag mitsamt einem Kurs und dem dazugehörigen Waffenschein
geschenkt. Sehr fürsorglich, oder? Die SIG war mit Silberkugeln geladen, der
einzigen Substanz, mit der man Vampiren ernsthaft schaden konnte, weil sie
ihren Körper vergiftete.
Als sich die Türen mit einem ‚Ding‘ öffneten,
kauerte ich am Boden und zielte in die schwach beleuchtete Tiefgarage hinein.
Das Deckenlicht flackerte und gab mir das Gefühl, in einem schlechten
Horrorfilm gelandet zu sein. Ich blähte die Nasenlöcher und versuchte, etwas zu
wittern, wusste aber, dass meine Nase in Menschenform so gut wie nutzlos war,
auch wenn sie bei Weitem besser funktionierte als die eines gewöhnlichen
Sterblichen.
Gewöhnlich war ich allerdings seit meinem siebten
Lebensjahr nicht mehr. Nicht, seit ich damals in Amerika von irgendetwas
gebissen worden war. Meine Eltern und ich hatten früher dort gewohnt, und eines
Nachts schlich ich aus dem Haus. Weswegen weiß ich nicht mehr und auch nicht,
was in jener Nacht geschah. Nur dass ich mich am nächsten Morgen in einer Gasse
wiederfand und mich wie ein anderer Mensch fühlte. Plötzlich konnte ich besser
hören und riechen. Und so fand ich, indem ich meiner alten Spur folgte, ganz
einfach zu meinen Eltern zurück. Eine Woche später hatte ich mich dann das
erste Mal verwandelt. Das war der letzte Tag, an dem unsere Familie glücklich
war. Wir wanderten nach Deutschland aus, um den Vorfall zu vergessen, aber er
war bis heute ein Teil von mir. In verwandelter Form war ich ein deutscher
Schäferhund, wog aber beachtlich mehr als dreißig Kilo. Ich war auch größer und
somit kräftiger als ein normaler Hund. Es gab nur eine Handvoll Gestaltwandler
auf der Welt, was uns extrem begehrt machte. Das war auch der Grund, warum nur
wenige von meiner Anomalie wussten.
Nachdem ich sicher war, dass mir hinter den Türen
niemand auflauerte, verließ ich den Fahrstuhl. Der metallische Geruch von Blut
war einfach überall, sodass ich mich kaum orientieren konnte. Da die Tiefgarage
noch für drei angrenzende Gebäude diente, war sie ziemlich voll. Sollte sich
hier also jemand verstecken, hatte er gute Chancen nicht entdeckt zu werden.
Handelte es sich dann noch um einen Vampir, steckte ich in ernsthaften
Schwierigkeiten. Ich schauderte bei der Vorstellung, ein Vampir könnte mich
beobachten, glaubte allerdings nicht, dass die Meiers dahintersteckten. Zum
einen hätten sie mich schon in meinem Büro kaltmachen können und zum anderen
waren sie einfach nicht die Art von Vampir, die Leute kaltblütig
abschlachteten. Soweit ich wusste saugten die Meiers nicht einmal Menschen aus,
sondern bestellten sich Konserven aus Blutbanken. Für Vampire waren sie also
wirklich in Ordnung. Ich schlich von Auto zu Auto, immer darauf bedacht, keine
lauten Geräusche zu machen, und schaute mich um. Doch die Tiefgarage war so
still, wie sie um vier Uhr morgens nur sein konnte, was mich nicht gerade
beruhigte – nicht, wenn mir ein Blutsauger auflauerte.
»Du kannst nicht entkommen!«, erklang unvermutet
eine männliche Stimme hinter meinem Rücken.
Ich gab einen hollywoodreifen Schrei von mir und
fuhr zu dem Unbekannten herum. Ich hatte nicht einmal Zeit, sein Gesicht zu
betrachten, da traf mich auch schon seine Faust und ließ meinen Schädel vor
Schmerzen fast explodieren. Ich landete ein paar Meter weiter zwischen einem
Familienbus und einem Mercedes, dessen Stern sich beim Aufprall in meinen
Unterarm bohrte. Wäre ich ein Mensch gewesen, wäre mir jetzt wahrscheinlich der
Deckel zugegangen – war ich aber nicht, weshalb ich einiges einstecken konnte.
Ich rappelte mich auf und zielte auf die Stelle, wo er eben noch gestanden
hatte, doch er war verschwunden.
»Was willst du?«, rief ich. Ich hoffte auf eine
Antwort, damit er seinen Standort verriet, aber so dumm war er nicht – leider.
Stattdessen hörte ich ein ächzendes Geräusch, als würde etwas Schweres
hochgehoben oder gebogen. Meine Augen wurden groß, als ich das Auto auf mich
zufliegen sah. Ich konnte nur noch die Arme über den Kopf reißen und mich
ducken.
Der Familienbus fing das Auto ab, und Splitter und
Autoteile regneten auf mich nieder. Ich war nicht verletzt, dafür war aber
meine Waffe verschwunden. Während ich zu verhindern versuchte, dass mir das
Herz aus der Brust sprang, überlegte ich fieberhaft, was ein Vampir von mir
wollen könnte. Ich nahm nicht an, dass es eine Immobile war, das hätten wir
auch gemütlich in meinem Büro besprechen können. War er ein Mietschuldner, der
aus seiner Wohnung geflogen war? Das könnte ein Grund sein, sich rächen zu
wollen, aber dennoch glaubte ich nicht, dass er deshalb hier war. Ich hatte
zwar keine Zeit gehabt, ihn zu betrachten, aber irgendetwas sagte mir, dass ich
in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. »Bitte sag mir, was du von mir willst«,
versuchte ich es noch einmal. »Vielleicht kann ich dir helfen.«
Er lachte. Tief und unheilvoll. »Oh, du hilfst mir
schon, indem du stirbst«, sagte er und erschien über mir auf den Trümmern des
Wagens. Bevor ich reagieren konnte, griff er in meine Haare und zog mich aus
den Metallteilen. Ich schrie und strampelte mit den Beinen und verfluchte mich
gleichzeitig für meine Wehrlosigkeit. Ich war nicht völlig hilflos, aber an den
Haaren fixiert zu werden war mir neu. Er drehte mein Gesicht zu sich, sodass
ich das eingebrannte K auf seiner Stirn sehen konnte. Er grinste, als er meinen
entsetzten Gesichtsausdruck sah, und für einen Moment war mir, als setzte mein
Herz aus. Er war ein Auftragskiller von Killer Inc. Sie suchten sich
skrupellose Verbrecher, Mörder und Vergewaltiger, brandmarkten sie und
verwandelten sie dann in Vampire. Einmal als Auftragskiller gekennzeichnet, war
man zum Tode verurteilt, und was blieb einem da anderes übrig, als den Beruf
weiterzuführen?
»Muss ja ein ganz schönes Kopfgeld auf mich
ausgesetzt sein, wenn sich ein so gefährlicher Mann an einer unschuldigen Frau
vergreift.« Ich keuchte vor Schmerzen, denn er ließ mich immer noch an den
Haaren baumeln.
»Klappe! Ich weiß genau, was du bist, Halbblut. Und
wenn du es wissen willst, auf deinen schönen Kopf sind fünfzigtausend Euro
ausgesetzt.«
Hätte ich nicht solche Schmerzen gehabt, hätte ich
ihm einen Vogel gezeigt. Ohne mich selbst niedermachen zu wollen – aber wer
würde bitte so viel Geld für meinen Kopf wollen? Er musste mir meine Frage
angesehen haben, denn er lachte beinahe hysterisch.
»Ich war auch erstaunt, vor allem als ich dich
halbe Portion gesehen habe, aber was soll‘s! Es geht nur ums Geld.«
Er war so sehr mit Reden beschäftigt, dass er nicht
merkte, wie ich meine Krallen ausfuhr. Das konnte ich, auch wenn die Prozedur
sehr schmerzhaft war. Sie waren zwar nicht so spektakulär wie die von X-Men
Wolverine, aber sie waren scharf – sehr scharf. Ich rammte meine Krallen in
seine Arme und riss sie nach unten. Er brüllte auf, als ich auf Knochen stieß,
und ließ mich fallen. Sofort duckte ich mich unter einem Auto hinweg und
krabbelte davon. Ich hinterließ blutige Abdrücke auf dem Boden, denn meine Krallen
bildeten sich bereits wieder zurück.
»Dafür werde ich dich foltern, du Schlampe!«,
brüllte er und kam hinter mir her. Doch er machte sich nicht die Mühe zu
kriechen, sondern fegte einfach jedes Auto beiseite, das ihm im Weg stand.
Warum mussten Vampire immer so unheimlich stark sein? Ich sah ein, dass ich in
menschlicher Gestalt keine Chance hatte. Als Hund würde ich schneller und
wendiger sein, und auch wenn die Aussicht gering war, konnte ich vielleicht
doch entkommen.
So schnell es ging, entledigte ich mich meiner
Kleidung und kroch dabei weiter, das wütende Toben des Vampirs immer hinter
mir. Kaum war ich ausgezogen, verwandelte ich mich auch schon. In
Stresssituation ging es meist schneller, und oh Mann, wie war ich im Stress!
Zuerst breitete sich ein Prickeln aus, das am Kopf begann und bis in die
Zehenspitzen ging. Dann zog sich meine Haut unangenehm, aber nicht schmerzhaft
zusammen, nur um wenige Augenblicke später in Fell zu explodieren. Daraufhin
prickelte mein Körper ein letztes Mal, dann stand ich auch schon auf vier
Pfoten. Augenblicklich wurden meine Sinne schärfer, die Nase feiner und die
Geräusche intensiver. Ich konnte das Blut riechen, das vor nicht allzu langer
Zeit hier vergossen worden war. Es war eindeutig Vampirblut und gehörte allem
Anschein nach den Meiers.
Ich spähte unter Dutzenden von Autos hindurch und
sah zwei bleiche Gestalten auf dem Boden liegen. Die Leiche von Herrn Meier war
verschrumpelt, der Kopf abgetrennt. Wäre ich in Menschengestalt, hätte ich mich
womöglich übergeben, aber als Hund war mein Würgereflex nicht ganz so stark.
Von seiner Frau sah ich nur die Füße, aber ihr war es wohl nicht besser
ergangen. Es gab nicht viele Möglichkeiten, einen Vampir zu töten, ihm den Kopf
abzuschlagen, gehörte aber zu den effizientesten. Ich verließ meine Deckung,
sprintete auf eine nahestehende Säule zu und registrierte mit Erleichterung,
dass mein Verfolger meine Abwesenheit gar nicht bemerkte.
Er warf einfach immer mehr Autos um und verursachte
einen solchen Krach, dass er meine Schritte übertönte. »Ich bin deine Spielchen
allmählich leid!«, brüllte er verärgert.
Ich deine
auch!, dachte ich schnaufend.
»Wenn du dich mir jetzt ergibst, wird es nicht so
schmerzhaft, das verspreche ich dir.«
Ich achtete nicht auf ihn, denn ein rotes Blinken
am Fahrstuhl erregte meine Aufmerksamkeit. Der Zeitmechanismus, aber natürlich!
Wieso war ich nicht gleich darauf gekommen? Um zu verhindern, dass sich fremde
Personen über die Tiefgarage Zugang zu unserer Firma verschafften, hatten wir
einen Mechanismus einbauen lassen. Dieser ließ den Fahrstuhl nach ein paar
Minuten automatisch nach oben fahren. Der Treppenbereich war um diese Uhrzeit
abgeriegelt, der Killer würde mich also schwer verfolgen können, und auch wenn
er durchkam, waren da noch dreizehn Stockwerke, die zu überwinden waren. Zu
Fuß! Das würde selbst einen Vampir Zeit kosten. Zeit, die ich nutzen konnte, um
Hilfe zu rufen. Ich hatte nur eine Chance und sprintete los.
Der Vampir ließ von den Autos ab, als ich in sein
Blickfeld trat und beobachtete mich grinsend. Er dachte wohl, ich suche
verzweifelt nach einem Ausgang. Als Hund war ich unglaublich schnell, aber der
glatte Boden machte es schwer, das gewohnte Tempo zu erreichen. Als sich die
Türen langsam zu schließen begannen, kläffte ich ängstlich und versuchte noch
einmal zu beschleunigen. Da wurde dem Vampir erst bewusst, was ich vorhatte. Er
fluchte und rannte ebenfalls zum Aufzug, doch er hatte zu spät reagiert. Ich
war so schnell, dass ich mich nicht mehr bremsen konnte und mit voller Wucht
gegen die Innenwand des Fahrstuhls krachte. Ich besaß noch die
Geistesgegenwart, den Kopf zu drehen, sodass ich mit der Schulter aufprallte,
dann sackte ich benommen zusammen. Der Fahrstuhl ging zu und setzte sich
augenblicklich ruckelnd in Bewegung. Die Türen bekamen noch eine faustgroße
Delle, als der Vampir von außen dagegen schlug, aber sie waren ziemlich stabil.
Mussten sie auch, immerhin arbeiteten wir mit Vampiren zusammen.
Ich war nicht bewusstlos, aber wie gelähmt vor
Schmerzen. Trotzdem zwang ich mich in meine Menschengestalt zurück, denn die
Gefahr war noch längst nicht gebannt. Als ich wieder auf zwei Beinen stand,
durchwühlte ich die Tasche nach meinem Handy und drückte mit zittrigen Händen
die Kurzzahl. Nicht 110! Die Polizei konnte mir in diesem Fall nicht helfen und
hätte höchstens als Snack für den Vampir hergehalten. Außerdem wussten nur
wenige über deren Existenz Bescheid, und das sollte auch so bleiben. Mein
Onkel zum Beispiel arbeitete bei der Staatsanwaltschaft und hatte obendrein einen
mehr als guten Draht zum Polizeichef. Er hielt uns die hartnäckigen Ermittler
vom Leib, aber auch ihn rief ich nicht an. Nein, was ich brauchte, war jemand
mit Einfluss, jemand, der sogar unter den Untoten berüchtigt war.
Es hatte erst einmal geklingelt, da meldete sich
auch schon eine freundliche Stimme mit englischem Akzent. »Hier Max am Apparat,
was gibt‘s?« Max war der Stellvertreter von William Drake, dem Inhaber des
Vampirclubs sowie einer Sicherheitsfirma und dazu Ranger vom Bezirk Mitte. Ich
mochte Max und kannte ihn und Will seit meinem neunten Lebensjahr.
»Hier ist Cherry, Cherrilyn Olsen«, stammelte ich.
»Ich weiß, wer du bist, dein Name steht auf dem
Display«, sagte er in typisch sarkastischem Ton.
Normalerweise brachte mich das zum Lächeln, aber im
Augenblick war mir überhaupt nicht nach Scherzen zumute. »Ein vampirisches
Ehepaar wurde von einem der Killer Inc. getötet. Sie liegen verschrumpelt in
der Garage. Ich konnte gerade noch in den Aufzug flüchten. Er ist hinter mir
her und sagt, dass ein Kopfgeld von fünfzigtausend Euro auf mich ausgesetzt
wäre.«
Alle Heiterkeit war aus seiner Stimme verschwunden.
»Wo bist du jetzt?«
»Bei D.I.P., bitte beeilt euch.« Damit legte ich
auf. Ich hatte den dreizehnten Stock erreicht, traute mich aber nicht gleich
aus dem Fahrstuhl. Die Angst, der Killer könnte hinter der nächsten Ecke
lauern, war einfach zu groß. Die Etage war stockdunkel und der Lichtschalter
einige Meter entfernt. Andererseits roch ich keinen Vampir und die
Sicherheitstür zur Treppe war auch verschlossen. Mir Mut zuredend, schnappte
ich meine Tasche und hastete splitterfasernackt zum nächsten Lichtschalter. Ich
vergewisserte mich jedoch nicht, ob ich wirklich allein war, sondern rannte
sofort in den Schutzraum. Fehlte noch, dass ich die einsame Heldin spielte und
in den dunklen Ecken nachschaute. Das überließ ich den blöden Tussen aus den
Horrorfilmen.
Der Schutzraum war ein drei Quadratmeter großes
Viereck, bestehend aus mehreren Schichten aus Panzerglas. Man hatte es vorher
testen lassen und es ließ den einen oder anderen Vampir tatsächlich an seine
Grenzen stoßen. Keinen Meistervampir natürlich, aber der Auftragskiller hatte
keinen sonderlich starken Eindruck auf mich gemacht. Zugegeben, mich könnte er
zerquetschen wie eine Mücke, aber das traf auf alle durchschnittlichen Vampire
zu; die wirklich alten und mächtigen dagegen, hätten mich nicht einmal berühren
müssen, um mir den Garaus zu machen. Ich schloss die Glastür und gab den
fünfstelligen Code ein, dann stellte ich die Tasche hin und kauerte mich auf
den Boden, die Treppe und den Fahrstuhl im Blickfeld.
Ich wartete.
Eine Viertelstunde später vibrierte mein Handy,
doch war ich bereits so ein Nervenbündel, dass ich den Anrufer aus Versehen
wegdrückte und vor Schreck zusammenfuhr. Ich fluchte lauthals, war froh, dass
mich mein Vater nicht hören konnte, und ging beim nächsten Klingeln ran.
»Alles in Ordnung bei dir?« Das war Will, der
Ranger.
»Ja, ich bin im Schutzraum.«
»Ich lasse meine Männer hier unten und komme rauf.
Lass den Fahrstuhl runter!«, befahl er und legte auf.
Normalerweise hätte ich mich über seinen barschen
Tonfall geärgert. Ich mochte es nicht sonderlich, wenn man mir Befehle
erteilte, und Vampire neigen dazu, Menschen als niedere Kreaturen anzusehen. In
diesem Moment allerdings war ich einfach nur froh, dass er da war. Ich verließ
den Schutzraum, schickte den Fahrstuhl nach unten und schloss mich sofort
wieder ein. Es war zwar unwahrscheinlich, dass der Killer noch da war, wenn
Will aufkreuzte, aber sicher war sicher. Ich hatte die Beine angewinkelt und
die Hände darum geschlungen, damit wenigstens die intimsten Stellen bedeckt
waren.
Ich hätte mir aber keine Mühe zu geben brauchen,
denn Will schaute nicht einmal in meine Richtung, als er aus dem Fahrstuhl
trat, sondern überprüfte zuerst die angrenzenden Räume. Er hatte dunkelbraunes
volles Haar, das knapp über den Schultern endete, und so dunkle Augen, dass sie
schon fast schwarz wirkten. Will hatte ein sehr männliches Gesicht, markant und
eckig, dichte Augenbrauen und einen Dreitagebart. Er legte immer eine leicht
überhebliche Art an den Tag, die die meisten Menschen einschüchterte – mich
inbegriffen. Auch jetzt nickte er mir nur kurz zu, zog seine Jacke aus und
stellte sich mit dem Rücken zu mir. Eine stumme Aufforderung, den Schutzraum zu
verlassen und seine Jacke überzuziehen.
Ich tat es und war froh, dass er so ein Riese war,
weil seine kurze Jacke über meinen Po ging. Ich selbst war um die
einssiebenundsiebzig und mit knapp siebzig Kilo auch kein Klappergestell, doch
man sah mir die Kilos nicht an, weil die meisten davon wirklich nur Muskeln
waren. Da ich mir die Jacke fast zweimal umwickeln konnte, musste auch Will
also ziemlich muskulös sein. Ich beäugte ihn aus den Augenwinkeln und sah, dass
ich absolut richtig lag. Mit verschränkten Armen stand er da und sah einfach
nur umwerfend aus. Ich fand das ziemlich ungerecht. Reichte es nicht, nahezu
unverwundbar, schnell und übernatürlich stark zu sein? Machte das die Vampire
nicht schon zu perfekten Jägern? Nein, sie mussten auch noch unnatürlich schön
sein und eine anziehende Aura haben. So nah an ihm dran, fiel es mir gerade
sehr schwer, mich zu konzentrieren und nicht den Blick aufs Wesentliche zu
verlieren. Ich ertappte mich dabei, wie ich nach und nach seine Körperregionen
begutachtete und mir doch ein bisschen warm wurde. Hey, ich musste das
ausnutzen! Einen Ranger bekam man schließlich nicht jeden Tag zu Gesicht.
Abrupt blähten sich Wills Nasenlöcher, und sein
Blick huschte zu mir. Oh Gott! Ich wandte mich ab und hastete zum Fahrstuhl, um
seinen Blicken auszuweichen. Reiß dich
gefälligst zusammen Cherry! Sonst denkt er noch, du stehst auf ihn, tadelte
ich mich in Gedanken.
»Wo willst du hin?«, fragte er.
Wenn er mein Verlangen gewittert hatte, so ließ er
sich nichts anmerken.
»Meine Klamotten holen. Oder soll ich nackig in der
Stadt herumrennen?«, fragte ich spitz. Mein Sarkasmus half mir, die
Verlegenheit wegzuspülen und nicht mehr an seinen Körper zu denken.
»Und deine Tasche?«
Sein Tonfall machte deutlich, dass er mich
durchschaute. »Die werde ich selbstverständlich mitnehmen«, knurrte ich und
stampfte an ihn vorbei in den Schutzraum hinein.
»Gibt es noch einen anderen Ausweg, außer über die
Tiefgarage?«
»Über die Treppe. Die führt
geradewegs in den Empfangsbereich. Wieso?«
Ich war schon im Fahrstuhl, als er mir hinterherkam
und antwortete: »Du solltest lieber nicht hinuntergehen.«
Ich hielt inne. »Weil du denkst, ich könnte den
Anblick der Leichen nicht ertragen?« Ich konnte nicht anders, als
herausfordernd zu klingen. Ich hatte in meinem Leben schon einmal eine Leiche
gesehen, und es war kein Vampir gewesen.
»Nicht deshalb.« Er machte eine wegwerfende
Handbewegung. »Sondern wegen Marie. Sie hat überlebt, und ein dem Tode
entronnener Vampir kann sehr gefährlich sein.«
»Sie lebt?«, rief ich überrascht und ignorierte
seine Warnung. »Ich muss sofort zu ihr!«, sagte ich und drückte bereits den
Knopf, doch Will stemmte sich gegen die Fahrstuhltür. Na ja, eigentlich lehnte
er nur lässig dagegen, dabei sollten sie der Kraft eines Vampirs trotzen.
Verdammter Meistervampir!
»Ich glaube, du hast mich nicht ganz verstanden.
Marie wurde die Kehle herausgerissen, und sie ist eben erst verheilt. Wenn ein
Vampir so viel Blut verliert, kann er nicht rational denken und greift jeden
an, der einen Puls besitzt. Du solltest also wirklich nicht nach unten gehen.«
Ich schaute mit zusammengekniffenen Augen zu ihm
auf. »Vielleicht hast du mich vorhin auch nicht verstanden, aber ich wurde von
einem Auftragskiller angegriffen und will verdammt nochmal wissen, warum
fünfzigtausend Euro auf meinen Kopf ausgesetzt sind! Ich werde also jetzt da
runter gehen und Frau Meier befragen, und du und deine Männer, ihr werdet sie
ja wohl so lange im Zaum halten können.« Ich drückte auf den Knopf für das
Erdgeschoss und zog wartend die Augenbrauen hoch.
Will stand immer noch in der Tür und maß mich mit
einem seltsamem Blick. Als sei er verärgert und belustigt zugleich. Ich dachte
schon, er würde sich weigern, doch dann stieg er ein und blieb hinter mir
stehen.
Die ganze Fahrt nach unten sprachen wir kein Wort.
Einmal musste ich mich tatsächlich nach ihm umdrehen und vergewissern, nicht
allein zu sein, so still war er. Ich hingegen machte viel zu viele Geräusche,
räusperte mich, trat mit dem Fuß auf oder kratzte mich am Kopf. Als ich mir
dessen bewusst wurde, hörte ich sofort auf. Wie verschieden unsere Spezies doch
waren!
»Ich mache dich nervös«, stellte er fest.
Ich drehte mich nicht um, als ich antwortete: »Eher
Angst, aber das tun alle Vampire, also bilde dir nichts ein.« Ich konnte sein
Gesicht nicht sehen, war mir aber sicher, dass ihn das amüsierte.
Als sich der Fahrstuhl öffnete, schob er mich
hinter sich, sodass er als Erster durch die Türen trat.
Ich war geschockt, als ich die Tiefgarage sah. Nur
noch vereinzelte Autos waren heil geblieben, der Rest lag demoliert und
zerteilt in der Gegend herum. Zum Glück sind wir versichert, war mein erster
Gedanke, denn nicht nur unsere Autos hatten daran glauben müssen. Mein weißer
BMW war unter den ganzen Trümmern gar nicht erst zu finden. Will führte mich zu
den Meiers, und als ich Marie sah, schluchzend und wimmernd über die
verschrumpelten Überreste ihres Mannes gebeugt, wurde mir schlecht.
Nur seine Sachen identifizierten ihn noch als den,
der er einmal war, der Rest war unerkennbar. Wenn Vampire den wahren Tod
sterben, dann verfliegen ihre Grazie und Schönheit und sie verwandeln sich in
das, was sie wirklich sind – vermodernde Leichen. Seinen Kopf, der ein paar
Meter weiter lag, hatte man gnädigerweise mit einem weißen Tuch bedeckt,
weshalb Marie nur noch über Herrn Meiers Torso kniete. Rosa Tränen, gemischt
aus Wasser und Blut, rannen ihr die Wangen herunter, und auch mir brannte es in
den Augen. Ich hatte ihn wirklich gemocht. Als ich ihr eine Hand auf die
Schulter legen wollte, hielt mich Will unsanft zurück.
»Du darfst ihr Fragen stellen, sie aber nicht
anfassen«, sagte er und bedeutete seinen Männern, in Maries Nähe zu bleiben.
Max war nicht dabei, wie mir auffiel – er hielt wahrscheinlich Stellung im Drake –, dafür aber vier in Schwarz
gekleidete männliche Vampire. Als Will sprach, unterbrach sich Marie und
blickte zu uns auf. Die Tränen liefen unentwegt weiter, aber sie schluchzte
nicht mehr. Arme Marie!
»Es tut mir so unendlich leid«, flüsterte ich und
wollte instinktiv einen Schritt nach vorne machen, doch Will hielt mich wieder
zurück. Ich funkelte ihn böse an, blieb aber auf Abstand.
»Wir wollten gerade ins Auto steigen«, erzählte
Marie schluchzend. »Und plötzlich lag sein Kopf neben mir. Ich habe nicht mal
jemanden gesehen.«
»Konntest du einschätzen, wie alt er war?«, fragte
Will, ohne auf ihre Worte einzugehen.
Ich fand das ziemlich taktlos, immerhin war ihr
Mann gerade gestorben.
Marie schüttelte den Kopf und verteilte rosafarbene
Tränen auf dem Boden. »Im nächsten Moment spürte ich ein Brennen in der Kehle,
dann wurde alles schwarz.«
»Wir müssen seine Leiche wegschaffen«, forderte
Will, woraufhin Marie nur nickte.
Ohne weitere Befehle begannen Wills Männer, die
Überreste in ein weißes Tuch zu wickeln und wegzutragen.
Ich war geschockt. »Bekommt er denn keine
Beerdigung oder etwas Ähnliches?«
Will sah mich an, als sei ich verrückt geworden.
»Er war ein Vampir, Cherry! Wie willst du eine verschr...« Er warf einen Blick
auf Marie und änderte seine Worte. »Wir können unseresgleichen nicht beerdigen,
wie es die Menschen tun. Das würde zu viele Fragen aufwerfen. Wir werden ihn
verbrennen.«
»Und was geschieht mit ihr?«, fragte ich und
deutete auf die Vampirin.
Schluchzend kauerte sie auf dem Boden und schaute
zu, wie ihr Mann weggeschafft wurde.
»Meine Leute werden sich um sie kümmern«,
antwortete Will und holte ein Handy heraus. Während er ein untotes
Aufräumkommando herbei orderte, wurde Marie von einem der Männer
hinausbegleitet.
Ich suchte in der Zwischenzeit meine Sachen
zusammen, konnte den BH aber nicht mehr gebrauchen, da er in der Mitte
durchgerissen war. Komisch, ich konnte mich nicht erinnern, ihn zerrissen zu
haben. Meine Klamotten rochen nach Angst und Schweiß, aber das war mir im
Moment egal. Duschen konnte ich später, die Hauptsache war, dass ich nicht mehr
nackt durch die Gegend lief. Meine Waffe fand ich unter den Trümmern des
Familienbusses und steckte sie in den hinteren Hosenbund. Ich rief Louis, den
stellvertretenden Geschäftsführer, an und berichtete ihm von den Ereignissen.
Als Stellvertreter war er sich darüber im Klaren, wer unsere Kunden waren. Bei
den Mitarbeitern sah das schon anders aus, da sie die Vampire ja nur am Telefon
beraten mussten, während ich hingegen für die persönlichen Treffen zuständig
war.
Louis trug das Ganze mit Fassung und bot sogar an
vorbeizuschauen, aber ich lehnte ab. Er solle den Sonntag genießen und sich
erholen. Nach meinem Vater war er nämlich der größte Workaholic überhaupt und
hatte mit zweiunddreißig Jahren mehr graue Strähnen als gesund war. Als ich das
Handy zuklappte, war auch Will mit dem Telefonieren fertig und winkte mich zu
sich.
»Wir haben Glück, dass wir Sonntag haben. So hat
das Team genügend Zeit, die Schäden zu beseitigen.«
»Wer informiert die vielen Besitzer der
zertrümmerten Wagen?«, fragte ich und schaute mich in der Tiefgarage um. Es
würden einige sein. Ich gab Will die Jacke wieder, bereute es aber sofort, weil
ich nur ein weißes Shirt trug und es doch etwas kühl in der Garage war.
»Auch darum werden sich meine Leute kümmern, und
die Jacke kannst du ruhig noch ein wenig behalten, du scheinst zu frieren«,
antwortete er mit einem demonstrativen Blick auf die fragwürdigen Körperteile.
Er gab mir die Jacke zurück und wandte sich an einen seiner Männer. Was er ihm
zuraunte, bekam ich aber nicht mit, weil mir die Schamröte ins Gesicht
gestiegen war und ich ihn innerlich aufs Übelste beschimpfte. Was bildete sich
dieser Kerl eigentlich ein? Dass er für die Sicherheit unserer Firma zuständig
war und sich gut mit meinem Vater verstand, gab ihm noch lange nicht das Recht,
auf meine Brüste zu starren. Arschloch! Sein Blick glitt zu mir, als hätte ich
es laut ausgesprochen.
»Warum bist du so zornig? Stimmt etwas nicht?«
Ich wusste nicht, ob er die Frage ernst meinte oder
mich zum Narren hallten wollte, also antwortete ich vorsichtshalber gar nicht.
Man durfte sich einem Vampir nie unterwerfen, sonst betrachtete er einen als
Eigentum. Das hatte mir mein Vater früh beigebracht. »Ich würde jetzt gern nach
Hause und mich duschen.«
»Das brauchst du nicht, du wirst vorerst bei mir
wohnen.«
Ich zog eine Grimasse. »Das soll wohl ein Witz
sein! Ich werde nirgendwohin gehen, außer nach Hause.«
»Wo der Attentäter, wenn er auch nur ein Funken
Verstand besitzt, auf dich warten wird«, unterbrach er mich.
Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um seinem
Blick zu begegnen, und funkelte ihn böse an. »Ich kann auch im Hotel schlafen,
du brauchst dir also keine Mühe zu machen.«
Will klang ungeduldig, als er erklärte. »Sieh mal
...«, doch ich unterbrach ihn.
»Jetzt hör mir mal zu. Vor deinen Vampirfreunden
kannst du gerne den Obermacker raushängen lassen, aber ich lasse mir von
niemandem etwas vorschreiben, es sei denn, er heißt Terry Olsen und ist
zufällig auch noch mein Vater.«
Will schaute auf meinen Finger, den ich ihm an die
Brust gesteckt hatte, und hob auffordernd die Brauen. Sofort nahm ich meinen
Finger weg, denn die meisten Vampire reagierten oftmals sehr empfindsam
gegenüber Drohungen, waren sie auch sonst noch so freundlich.
Doch Will schien es mir nicht übel zu nehmen,
stattdessen zuckten seine Mundwinkel, als hätte ich etwas Lustiges getan. »So,
so«, murmelte er und tippte auf seinem Handy herum.
Zu spät wurde mir klar, wen er da anrief, und als
sich mein Vater auch schon meldete, fuchtelte ich wild mit den Händen herum.
Auf keinen Fall wollte ich ihm von der Sache erzählen. Er machte sich ohnehin
schon zu viele Sorgen um mich, da sollte er nicht auch noch erfahren, dass
jemand nach meinem Leben trachtete. Ich bedeutete Will, dass er sterben würde,
wenn er ihm auch nur ein Wort erzählte, doch er beachtete mich gar nicht. In
kurzen Sätzen schilderte er den Vorfall, und ich konnte meinen Vater deutlich
zischen hören. Ein eindeutiges Zeichen, dass er besorgt war. Er verlangte nach
mir, und Will gab mir das Handy.
»Du bist ein toter Mann«, knurrte ich, bevor ich
mir das Handy ans Ohr legte.
»Und das schon ziemlich lange«, bestätigte er,
während seine Augen amüsiert aufblitzten.
Ich ließ seine Antwort unkommentiert und entfernte
mich ein Stück, um wenigstens den Anschein einer Privatsphäre zu erwecken.
Hätte ich nämlich wirklich mit meinem Vater allein sein wollen, hätte ich ein
paar Stockwerke höher gemusst. »Hi Dad.« Ich seufzte und ließ die Predigt über
mich ergehen.
Eine Viertelstunde später war mein Vater dann
endlich überzeugt, in New York bleiben zu können und nicht alles stehen und
liegen lassen zu müssen. Das war allerdings nicht mein Verdienst, denn erst
Will konnte ihn davon überzeugen, und das nur, weil er anbot, mich so lange bei
sich aufzunehmen, bis Vater wieder zurück war. Ich musste also versprechen, bei
Will zu nächtigen und nur in Begleitung mehrerer Leibwachen zur Arbeit zu
gehen. Das alles nahm ich kommentarlos hin, denn ich wollte meinen Vater nicht
hier haben. Erstens würde auch er in Gefahr sein und zweitens wusste ich, wie
wichtig ihm seine Klienten waren.
Meinem Vater zuliebe biss
ich also in den sauren Apfel. Ich fuhr bei Will mit, die anderen beiden Autos
vor und hinter uns. Es war halb fünf, und die Sonne würde in knapp einer Stunde
aufgehen. Bis dahin wollte ich schon längst im Bett sein, doch Will musste
vorher noch kurz im Drake
vorbeischauen. Der Wagen, in dem Marie mitfuhr, bog irgendwann in eine andere
Richtung ab, während wir weiter geradeaus fuhren. Sie würde unter
Personenschutz gestellt und an einen sicheren Ort gebracht werden, erklärte
Will, was mich ein wenig beruhigte. Nichts wäre schlimmer gewesen, als ihre
Aussage aufzunehmen und sie in ihr leeres Zuhause zurückzuschicken. So hatte
sie wenigstens ein bisschen Abstand von ... nun ja ... ihrem alten Leben.
Kapitel 2
Vom D.I.P waren es zum Glück nur zehn Minuten zum
Club, weil beide nah beieinander lagen. Hätte es länger gedauert, wäre ich
eingeschlafen. In Berlin-Mitte war so ziemlich immer was los, vor allem wenn
man sich am Alexanderplatz herumtrieb, und Wills Club war ganz in der Nähe. Und
dass die Sonne bald aufging, hinderte die Leute offenbar nicht daran, ihren
Spaß zu haben. Früher war ich auch gern umhergezogen, hatte mich dann aber mit
meiner besten Freundin gestritten und die Lust am Feiern verloren.
Wir hielten am Hintereingang, um uns nicht an den
Menschenmassen, die vor dem gefragtesten Club der Stadt Schlange standen,
vorbeizudrängen. Zur Erinnerung, es war fast fünf! Der Hintereingang wurde von
drei harmlos erscheinenden Männern bewacht. Ausnahmslos alle von Wills Männern
waren Vampire, und diese hier sahen wirklich nicht sonderlich beeindruckend
aus. Anders als bei den Menschen zählt bei Vampiren jedoch das Alter statt der
Muskeln. Ein dreißigjähriger Vampir zum Beispiel kann noch so viel trainieren,
er hätte keine Chance gegen ein vierzehnjähriges Mädchen, das bereits
einhundert Jahre tot ist – abgesehen davon, dass er sich seine Muskeln im
Menschenleben hätte aneignen müssen, weil sich Vampire nach ihrem Tod nämlich
nicht mehr verändern. Sie konnten sich zwar die Haare färben und Kontaktlinsen
einwerfen, aber ihr Körper blieb erstarrt. Ein Grund, warum man, wenn man sich
freiwillig verwandeln ließ, es in jungen Jahren tat. Es gab aber durchaus auch
ein paar Greise unter den Vampiren.
Die Männer machten den Weg frei und ließen uns
durch die Hintertür. Drinnen angekommen, wummerte mir sofort der Kopf, so laut
war die Musik. Irgendein Mix aus Electro und House. Ich zuckte mit den
empfindlichen Ohren und fragte mich, wie Vampire das nur ertrugen. Weil ihre
Sinne weitaus ausgeprägter waren als meine, müssten sie bei einer solchen
Lautstärke eigentlich Qualen erleiden. Da ich noch nie im Drake gewesen war, führte mich Will kurz herum und zeigte mir alle
sechs Floors. Drei im Erdgeschoss und drei in der ersten Etage. Er sagte auch
ab und zu etwas, aber die meiste Zeit hörte ich nur ‚Boom Boom Boom Boom‘. Es
gab noch Büroräume in der zweiten Etage und einen Keller, doch er zeigte mir
weder das eine noch das andere, sondern deutete alles nur an. Danach
verabschiedete er sich mit der Entschuldigung, noch dringende Geschäfte
erledigen zu müssen, und ließ mich allein.
Drinks durfte ich so viele nehmen, wie ich
vertragen konnte. Ich setzte mich im Electro-Floor an die Bar und bestellte
einen Caipirinha. Der Barkeeper hatte einen coolen Style, mit seinen langen
braunen Haaren und dem Gangsterhut. Er war groß, hatte graue Augen und war
schlank gebaut, aber muskulös. Vor allem aber gab der ungepflegte Dreitagebart
seinem Szene-Look erst den gewissen Pep. Er war ein Vampir und grinste
verschmitzt, als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete. »Gefällt dir, was du
siehst?« Er stellte mir den Drink hin und lehnte sich erwartungsvoll über die Theke.
»Ähm ... ja, schicker Hut«, meinte ich beiläufig,
damit er nicht dachte, ich stünde auf ihn. Das sollte man einem Vampir, auch
wenn es anders war, nie zeigen.
Er zuckte die Schultern und machte sich daran, die
anderen Gäste zu bedienen, als ich ihn fragte: »Woher weißt du, dass ich den
nicht bezahlen muss?«
Er streifte die Haare nach
hinten und entblößte ein Mikro am Ohr.
»Alles klar«, sagte ich und beobachtete ihn eine
Weile bei der Gästebedienung. Normalerweise brauchte man für die Menge an
Leuten mehrere Arbeitskräfte, aber dieser hier arbeitete den gesamten Floor
alleine ab. Bemerkten die Leute denn nicht, dass er sich teilweise mit
übermenschlicher Schnelligkeit bewegte, oder waren die wirklich so blau? Mir
fiel es jedenfalls auf und es machte mich nervös. Andererseits sorgte das
typische Discolicht dafür, dass seine Bewegungen abgehackt wirkten, und schon
bekam man es nicht mehr mit. Ich kehrte der Bar den Rücken und lehnte mich an
die Theke, um die Menschen zu beobachten.
Sie waren ganz normal gekleidet und nicht, wie
befürchtet, im Swingeroutfit. Die Vampire waren äußerlich schwer von ihnen zu
unterscheiden, dafür war ihre Atmosphäre aber eine andere. Jeder Vampir
strahlte eine gewisse Energie aus, die man am ganzen Leib spüren konnte.
Manchmal war es nur ein leichtes Prickeln, und manchmal war es, als fasse man
in eine Steckdose. Diese Wirkung hatten Vampire jedoch nur bei paranormalen
Wesen, wozu ich definitiv gehörte, und dem Energieniveau nach zu schließen,
waren hier verdammt viele Vampire. Während ich die Gäste beim Tanzen,
Herumfummeln, Knutschen und ... igitt, da trieben es sogar zwei in der Ecke ...
beobachtete, sprach mich niemand an, was ich meinem unspektakulären Outfit
zuschrieb. Es war eine angenehme Abwechslung, mal nicht angebaggert zu werden,
denn normalerweise – und das ist absolut nicht überheblich gemeint – konnte ich
mich vor Bewerbern kaum retten. Diese Männer hier waren wohl alle ziemlich
oberflächlich, sodass ich in Ruhe meinen Caipirinha genießen konnte.
Eine halbe Stunde, zwei Drinks und eine Zigarette
später reichte es mir allerdings. Will hatte nur kurz etwas erledigen wollen,
aber kurz war für mich anders. Als ich mir einen Weg durch die Menge bahnte,
fiel mir auf, dass ich nicht mehr ganz gerade lief. Ich war zwar nicht
betrunken, aber anscheinend leicht angeheitert. Ich begab mich in die zweite
Etage zu den Büroräumen und klopfte ungeduldig an die Tür.
Ein hochgewachsener, grimmig aussehender Vampir
machte auf und ließ mich vorbei. Er führte mich an mehreren leer stehenden
Büroräumen vorbei und begleitete mich bis zu Wills Bürotür. Es war allerdings
nicht Will, der mich willkommen hieß, sondern Max, sein Stellvertreter.
»Hey, Cherry, wie geht‘s dir?«, begrüßte er mich
und kam um den langen Marmortisch herum, der den Großteil des Raumes einnahm.
Max war klein, schlank und braunhaarig und sah deshalb für Außenstehende wie
das typische Opfer aus. Sein wahres Alter hatte er mir noch nicht verraten,
aber dem Prickeln nach zu urteilen war er ein ernst zu nehmender Gegner. Das Haar
hatte er sich unordentlich in alle Richtungen gekämmt, es sah aber dennoch
gewollt aus, und sein Gesicht war aufgeschlossen und freundlich. Das einzig
Auffällige an ihm waren seine Augen. Silberfarben mit grünen Pünktchen
gesprenkelt, für das menschliche Auge kaum zu erkennen. Max war einer der
wenigen, die von meiner Anomalie wussten, und er zog mich gerne damit auf. Er
umarmte mich kurz, was mich immer wieder überraschte, weil Vampire nicht
sonderlich auf Körperkontakt stehen, Sex und Blutsaugen natürlich ausgenommen.
Er ging zu einem Beistelltisch, auf dem sich jede Menge Sorten von Whisky
befanden.
»Abgesehen davon, dass irgendjemand nach meinem
Leben trachtet, ganz gut.«
Er schenkte sich ein und bot mir auch ein Glas an,
doch ich wehrte ab. »Ich hab heute schon genug getrunken, danke.«
»Man riecht‘s«, sagte er trocken und kippte den
Whisky auf ex. »Also, was führt dich hierher? Wurdest du belästigt?«
»Ganz im Gegenteil, mich hat nicht mal jemand mit
dem Arsch angesehen, aber ich muss wohl nicht erklären, wieso«, sagte ich und
deutete auf meine Klamotten.
»Ach, du meinst wegen der Sachen?«, fragte er und
hob unschuldig die Augenbrauen.
»Klappe«, sagte ich und musste gegen meinen Willen
lachen.
Er grinste und setzte sich hinter den Schreibstich.
Dann fragte er erneut: »Nein, im Ernst, wie kann ich dir helfen?«
»Du kannst mir helfen,
indem du auf der Stelle Will herholst. Ursprünglich wollte er nur kurz etwas
erledigen, leider sehe ich ihn aber nirgendwo.«
Max‘ Augen blitzen amüsiert auf, als er antwortete:
»Oh, er hatte auch zu tun, aber im Moment ist er ... indisponiert.«
»Indisponiert? Was soll das bedeuten?«, fragte ich
ungeduldig.
»Das bedeutet, dass...«, fing er an, doch ich
unterbrach ihn.
»Ich weiß, was es bedeutet, Max. Sag mir einfach,
wo er ist. Ich bin müde und bekomme langsam echt schlecht Laune.«
»Und niemand hier würde deinen Zorn auf sich ziehen
wollen.«
Ich lachte nicht, sondern starrte ihn an, bis er
sich seufzend ergab. »Na schön, er ist im Keller, aber ich würde ihn nicht
stören.«
»Das soll er mir schon selbst sagen«, antwortete
ich und verließ das Büro.
»Deine Entscheidung. Aber sag hinterher nicht, ich
hätte dich nicht gewarnt!«, rief Max mir nach, als ich schon aus der Tür war.
Der Bodyguard begleitete mich zum Ausgang und
postierte sich dann wieder vor der Tür. Indisponiert! Der kann was erleben,
schwor ich mir, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Ich fragte den Barkeeper
von vorhin nach dem Kellereingang und ließ mir den Weg zeigen. Im dritten
Floor, im Erdgeschoss, gab es eine verborgene Tür. Sie wurde von einem von
Wills Männern bewacht, was jedoch nur auffiel, wenn man genauer hinsah.
Nüchtern betrachtet, war er nämlich ein normaler Partygast, der mit einem Drink
in der Hand vor einer Tür lungerte. Er schien mich zu kennen oder zumindest von
meiner Anwesenheit unterrichtet zu sein, denn als ich nach Will fragte, ließ er
mich kommentarlos hinein.
Direkt im Anschluss an die Tür befand sich eine
dunkle Treppe, die ich beinahe hinuntergestolpert wäre, so dunkel war es. Ich
fand einen Lichtschalter neben der Tür und ging vorsichtig die Treppe hinunter.
Plötzlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich Will wirklich begegnen
wollte. Was, wenn er gerade jemanden aussaugte oder umbrachte? Da es Vampire
offiziell nicht gab, konnte man sie auch nicht des Mordes anklagen, weswegen
sie in ihren Entscheidungen so gut wie frei waren. Natürlich gab es auch
Vampirgesetze, welche von sogenannten Richtern überwacht wurden, deren Urteile
von Scharfrichtern vollstreckt wurden, aber die Gesetze waren doch um einiges
lockerer als unsere, was das Töten betraf. Die Kellertreppe mündete in einen
breiten Gang, welcher jeweils von drei Türen flankiert wurde. Hinter der ersten
Tür vernahm ich eigenartige schmatzende Geräusche und sah schon im Geiste, wie
Will eine unschuldige Frau aussaugte. Ohne groß nachzudenken stürmte ich in den
Raum hinein und blieb wie angewurzelt stehen.
Ja, er saugte tatsächlich an einer Frau, aber
anders als ich erwartet hatte. Beide waren nackt, Will mit dem Rücken zu mir
und die Frau breitbeinig auf einem Tisch. Er ließ von ihren Brüsten ab, als ich
eintrat, sah aber weder verärgert noch peinlich berührt aus. Sein Blick war
einfach nur neugierig.
Ich dagegen lief an wie eine überreife Tomate.
»Tu... Tut mir leid ... ich ... Macht einfach weiter«, stammelte ich und lief
rückwärts aus dem Raum. Ich zog die Tür zu und hastete zur Treppe. Gott, war
das peinlich! Am liebsten wäre ich noch einmal zurückgegangen, um mich in aller
Form zu entschuldigen, hätte damit aber alles nur noch schlimmer gemacht. Ich hab‘s dir ja gesagt, konnte ich Max
sagen hören. Ich würde seinen Rat – und das schwor ich mir – niemals mehr
infrage stellen. Als ich die Treppe erreichte, erklang Wills Stimme hinter mir.
»Nicht so schnell!«
Ich erstarrte auf der untersten Stufe und drehte
mich langsam zu ihm herum. Ich wünschte allerdings, ich hätte es nicht getan,
denn er war immer noch splitterfasernackt. Mit langsamen Schritten kam er auf
mich zugeschlendert, bis er direkt von mir stand und ich den Kopf in den Nacken
legen musste. Und wieder einmal war ich froh über seine Größe, denn sie
bewahrte mich davor, in Versuchung zu geraten. Ich würde ihm nie wieder ins
Gesicht schauen können, wenn ich jetzt einen Blick auf seine Kronjuwelen warf.
»Hör zu, es war bestimmt
nicht meine Absicht, euch zu stören«, fing ich an und meinte es auch so.
»Schon klar«, antwortete er und starrte auf mich
herab. Dachte er etwa, ich spionierte ihm hinterher? War mir doch egal, mit wem
er herumvögelte! Ich versuchte, sein Gesicht zu deuten, doch genauso gut hätte
ich versuchen können, an einem Stein etwas abzulesen. Die Frau kam aus dem Raum
und hatte sich einen lavendelfarbenen Bademantel übergezogen. Lässig am
Türrahmen lehnend, beobachtete sie uns. Sie war definitiv ein Mensch, denn erstens
ging keinerlei übernatürliche Energie von ihr aus und zweitens besaß sie ganz
offensichtlich nicht die Gabe der Gleichgültigkeit. Andernfalls hätte sie mich
nicht so ärgerlich angeschaut. Ich fand sie hübsch, ein bisschen dünn, aber
dennoch attraktiv. Eine Frau, die ein Mann nicht von der Bettkante stoßen
würde.
»Kommst du?«, fragte sie ungeduldig und spielte an
ihrem flauschigen Gürtel herum.
Doch Will schlug das Angebot ab und schaute dabei
nicht einmal in ihre Richtung. »Ich bin fertig, du kannst jetzt gehen.«
Die Frau fluchte meinen Sprachkenntnissen nach zu
urteilen auf Russisch. Während sie sich umzog, sprachen Will und ich kein Wort.
Er starrte mich nur an, sodass ich nach einer Weile echt hibbelig wurde. Ich
mochte es gar nicht, wenn man mich so mit Blicken taxierte.
Nach zwei endlosen Minuten war sie dann fertig und
besaß doch tatsächlich die Frechheit, mir den Stinkefinger zu zeigen, als sie
an uns vorbeirauschte.
»Schlampe«, murmelte ich, doch offenbar nicht leise
genug.
»Wie war das?«, fragte sie und blieb auf der Hälfte
der Treppe stehen.
Ich wollte schon zu einer Antwort ansetzen, da
mischte sich Will ein. »Lass gut sein, Alexandra!«
Sie warf mir noch einen tödlichen Blick zu und
verschwand dann endgültig.
»Also, was mache ich jetzt mir dir?«
Die Frage ließ mich noch röter werden. »Wie bitte?«
»Du hast mich um mein Abendessen gebracht, und das
hätte ich gern nachgeholt.«
Fassungslos sah ich zu ihm auf. Ich wich zurück und
brachte etwas Distanz zwischen uns, bevor ich sagte: »Von mir bekommst du gar
nichts. Außerdem sind hier genug Leute, die sich nur liebend gern von dir
beißen lassen würden. Eine ist gerade durch diese Tür verschwunden.« Ich wollte
witzig klingen, konnte aber nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte.
»Willige Opfer, bäh! Wo bleibt denn da der Spaß?«
Er nahm einen tiefen Atemzug. »Hmmmm, der süße Duft der Angst, einfach
unwiderstehlich.«
»Willst du mir Angst machen? Ist das irgend so ein
Machoscheiß?« Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er mich wirklich
beißen wollte. Er arbeitete schon seit Jahren für meinen Vater und war für
unsere Sicherheit zuständig. Das alles würde er doch nicht aufs Spiel setzen,
nur um einmal an mir zu nuckeln! Oder?
»Und wenn es so wäre?«
»Ich bin ein Werhund, ich kann mich durchaus verteidigen.« Er
lachte. »Im Moment eher ein Werwelpe. Du hast keine Ahnung, wie man kämpft
geschweige denn sich verteidigt. Was willst du tun, wenn dir der Killer wieder
nachstellt?«
»Könnten wir die Unterhaltung bitte fortsetzen,
wenn du dir was angezogen hast?«, fragte ich, weil ich mich nicht länger
zwingen konnte, in seine Augen zu schauen. Die Versuchung, einen Blick nach
unten zu werfen, war einfach zu groß.
»Ich mache dich also nervös, ja?«
Ich schüttelte lächelnd den Kopf, um einer Antwort
zu entgehen. Natürlich machst du mich
nervös, hätte ich am liebsten gesagt, du
und dein verboten gehörender Körper. Noch nie hatte ich ausgeprägtere
Muskeln und markantere Gesichtszüge gesehen, zumindest bei keinem
Normalsterblichen, doch er machte mich nervös, und das nicht einmal unbedingt,
weil er ein Vampir war. Aber es brauchte schon mehr als einen französischen
Luxuskörper, um bei mir zu punkten. Und da er ein eingebildeter Flegel war,
musste ich mir keine Sorgen machen, ihm jemals zu verfallen. Nachdem ich mir
das eingeredet hatte, ging es mir gleich besser. »Du machst mich sogar sehr
nervös, aber nur weil du ein Vampir bist. Und jetzt zieh dir endlich was an,
das kann man sich ja nicht antun!«, sagte ich spöttisch.
Doch Will ließ sich davon nicht beeindrucken. Er
lächelte überheblich zu mir herunter. »Du kannst von außen hin so hart tun wie
du willst, aber dein Körper verrät dich«, sagte er und tippte sich an die Nase.
Plötzlich spürte ich einen Windzug und kapierte
erst, was geschehen war, als er in Jeans vor mir stand. Ich hatte nur zwei Mal
geblinzelt, und er war im Zimmer verschwunden, hatte sich die Hose angezogen
und war wieder zurückgekehrt. Die Frage blieb mir im Hals stecken, als er das
rechte Knie zwischen meine Beine zwängte und mich hochhob.
Meine Füße baumelten links und rechts von seinem
Knie, Zentimeter über dem Boden, und ich musste mich an seinen Schultern
festkrallen, um nicht abzurutschen. Wäre kein eleganter Abgang gewesen!
Verärgert fletschte ich die Zähne, eine Angewohnheit, die ich nicht mochte, die
aber immer mal wieder durchkam.
Will schnaufte abwertend. »Du musst schon mehr
bieten, als mich anzuknurren, Welpe!«
»Lass mich runter, sofort!«, sagte ich verärgert.
Er lachte und ließ mich so abrupt los, dass ich auf
den Boden plumpste.
»Du bist schneller, wendiger und stärker als ein
Mensch, und dennoch weißt du dich nicht zu verteidigen. Das ist nicht gut.«
Ich rappelte mich auf. »Das weiß ich selbst, vielen
Dank.«
»Warum unternimmst du dann nichts dagegen?«
»Was interessiert dich das eigentlich?« Da! Genau
das meinte ich. Dieser Mann brachte mich zur Weißglut. Doch er antwortete
nicht, sondern verschwand in den Raum, in dem ich ihn vorgefunden hatte.
Neugierig folgte ich ihm, bis ich sah, dass er sich weiter anzog. Ich zog den
Kopf aus der Tür und überließ ihn sich selbst.
»Es interessiert mich, weil dich offensichtlich
jemand tot sehen will. Weil dein Vater mir einen Haufen Geld für deine
Sicherheit zahlt und weil dieser Umstand auch meine Männer gefährdet.« Als er
angezogen war, schaltete er das Licht aus und bedeutete mir, die Treppe hinauf
zu gehen.
»Wir gehen endlich?«, fragte ich hoffnungsvoll. Ich
musste dringend ins Bett.
»Wir gehen«, bestätigte er,
was mich zur Abwechslung mal zufrieden stimmte.
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